Friesische

Mythen

Das Geisterschiff

Als noch die Stadt Emden im schönsten Flor stand, die Ems unter den Stadtmauern dahinfloss und Schiffe aller Länder und Völker den Hafen füllten, begab es sich einmal, dass ein gewaltiger Sturm aus Nordwest losbrach, der das Wasser der Nordsee in ungeheuren Massen und Wellen der Stadt zuwälzte, so dass es ordentlich eine Not wurde. In diesem Wetter lief ein großes städtisches Kauffahrteischiff, das lange auf fremden und fernen Meeren ‚geschwalkt‘ hatte, bei der Einfahrt in die Ems bereits signalisiert worden war und nun sehnlichst erwartet wurde, des Nachts mit vollen Segeln an die Stadt. Schon war es nahe vor der Hafenmündung unweit der langen Brücke, nahe dem schützenden Delft, schon sah man im Scheine der aufgehissten Laternen, die hin und her schlugen, die dunklen Gestalten der Seeleute sich auf- und abbewegen, schon hörte man den Kommandoruf des den Sturm mit Macht übertönenden Kapitäns, hörte das Rasseln des schweren Ankers, der nieder in die Tiefe ging – da brach mit einem Male eine so höllische Windsbraut einher, wirbelten die Wasserberge so schrecklich in die Luft hinein, heulte und pfiff der Wind so gellend und eigentümlich, dass es ein Schauder für die am Hafen stehenden Zuschauer war. Das Schiff wurde plötzlich erfasst, emporgehoben, niedergetaucht und wieder mit einem Ruck aufgehoben, herumgewirbelt und dann in die Tiefe hinabgestampft. Ein grässlicher Notschrei ertönte vom Deck, vierzig wettergebräunte Seeleute, fast alle Emder Söhne, sollten hier im Angesicht ihrer Vaterstadt, im Angesicht ihrer am Kai stehenden Eltern und Geschwister so jämmerlich zu Grunde gehen!?

Bildquelle: Die Stadt Emden und ihr Hafen auf einer Karte von 1575

„Wo ist die Barge?“ rief man am Ufer, aber der Hafenschließer wies in den Delft auf das von ihm dort angeschlossen gehaltene Wachtboot, und sagte kalt und fühllos: „Die Barge bleibt hier, es wäre nutzlos, sie ausgehen zu lassen; auch hat Elfert Giesberts es nicht besser verdient, als es ihm jetzt geschenkt wird da draußen!“ Denn der so benannte Kapitän des Schiffes, das da außen eben unterging, war der erklärte Feind des Baumschließers, und der Schließer kannte nicht das Wort der heiligen Schrift: ‚Liebet eure Feinde‘, sondern wusste nur von dem Worte: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘. Und obgleich der Schließer Nachricht davon hatte, dass sein eigner Sohn an Bord des Kauffahrers sei, so war doch der Hass gegen den Kapitän in seinem Herzen so groß, dass er keine Hand zur Rettung der Mannschaft ansetzte. Und als man ihn nun gezwungen hatte, den Schlüssel herzugeben, da war es längst zu spät. Mit Mann und Maus war das Schiff versunken in dem Wirbel der Wasserberge, und höhnisch Pfiffen die Winde über die Stadtmauer hin.

Aber noch immer, wenn ein Sturm aus Nordwest heranzieht, die Wasser der See an den Deich hinan rasen, die Luft ächzt und stöhnt und die Winde gellen und heulen, sieht man in rabenschwarzer Mitternacht ein Geisterschiff in bläulichen Lichtschimmer eingehüllt heranstürmen, hört man das Klappern der Taue, das Rasseln der Ketten, das Rufen des Kapitäns und den mark- und beinerschütternden Angst- und Todesschrei der Sterbenden. Und wer den Schrei hört, fährt schauernd zusammen und eilt von jener Unglücksstätte hinweg. 

Textquelle: Sagen und sagenhafte Erzählungen aus Ostfriesland. Gesammelt und bearbeitet von Fr. Sundermann. Aurich 1869, S. 34f.