Friesische

Mythen

Die Herkunft der Kinder in Ostfriesland

Woher die Kinder kommen, ist bekannt. Der Storch bringt die Kleinen, und es geht auch in Friesland nicht anders zu. 

Nur die Emdener wissen es besser. Sie brauchen sich gar nicht auf Dritte zu verlassen, auch wenn sie die großen weißen Vögel gern haben. Die Emdener holen sich nämlich die Kinder einfach vom Nessersand. Das ist eine versunkene Insel im Dollart, die immer auftaucht, wenn man hinüberrudert. 

Wenn Vater und Mutter noch ein Brüderchen oder Schwesterchen haben wollen, so rufen sie ein grüngläsernes Schiff. Kein anderes taugt dazu, weil es durchsichtig bleiben muss; auch die Wasserleute wollen doch ihre Freude an dem neuen Kindlein haben. Sie führen das Glasschiff mit Vater und Mutter sogar selbst hinüber. 

Die Insel hebt sich, trocken und blumig, als sei sie nie untergesunken. Auf dem Ness, der äußersten Spitze, liegt der Wunderteich. Vater geht dreimal rundum, dann taucht ein Boot auf – jetzt muss er achtgeben und mit den Seestiefeln ins Wasser, denn das Boot bekommt einen Schrecken und will mit dem Kind wieder in die Tiefe zurück. Aber meist kriegt er das Tau gerade noch zu fassen, hebt das kleine Wesen heraus und bringt es der Mutter. 

Ach, und die freut sich so sehr. Jedes Mal verstaucht sie sich den Fuß und muss zur Strafe ein paar Tage im Bett liegen. 

Mitunter, wenn man bei einer Seetonne vorbeikommt, ist das Kind einem wohl auch schon entgegengefahren; man braucht nur anzuklopfen, und aus der schwarzen Tonne springt ein Junge, aus der weißen ein Mädchen. Aber meist taugen die Kleinen nicht so viel wie die aus dem großen Wunderteich.

Quelle & © [Hans Friedrich Blunck, Nordseesagen, Loewes Verlag, Bayreuth 1982]