Friesische

Mythen

Die Überfahrt der Seelen bei Neßmersiel

Es ist bekannt, dass der Tod zuweilen eine Schar von Seelen Verstorbener über das Wasser nach dem Witteöland übersetzt. Wer dafür ausgewählt wird, weiß man nicht; es ist ja auch nur ein Teil der Verstorbenen, der den Weg geht. In der Stadt Norden lebte die Frau des Steuermanns Pieter Jansen, die wurde immer kleiner und unansehnlicher. Sie hatte ihrem Mann kein Kind schenken können und fühlte sich, wenn er auf See war, ganz verlassen und einsam, Aber die beiden hatten einander dennoch lieb. Als die Frau, die zu den Übersichtigen gehörte, einmal zu schauen glaubte, dass ihr Mann auf der nächsten Reise bleiben würde, da hat sie sich, man weiß nicht wie, an seiner Statt bei den Toten eingeschlichen.

Der Betrug ist aber herausgekommen, und das geschah auf besondere Weise.

Bei Neßmersiel kam ein Fremder, wie ein alter Emdener Kaufherr gekleidet, zum Fischer und Fährmann Minssen, der die Reisenden nach Baltrum übersetzte.

Der Unbekannte trug einen apfelgrünen Rock mit eingestickten Blumen, kurze schwarze Hosen und einen Dreispitz. Dem Fischer Minssen schien die altertümliche Kleidung drollig, aber der Fremde hatte sonst nichts Ungewöhnliches an sich, hatte sogar flinke braune Augen, die alles in Augenschein nahmen. Er wurde deshalb von Minssen, der mit den Seinen gerade bei Tisch saß, freundlich aufgenommen. Nach dem Essen stellte sich der Gast mit dem Schiffer ans Fenster, so dass Frau und Kinder nichts von ihrem Gespräch verstanden.
„Wo groot is dien Sluup?“ fragte er. („Wie groß ist deine Schaluppe?“)
„Umstreck dre Törflasten“, gab der Fischer an. (Ungefähr drei Torflasten.“)
„Maakt drehunndrt Seelen“, rechnete der andere aus. „Kann angaan! Klockslag twölf tokamen Nacht in’t Siel. Un’t Geld op’t Brett!“ („Macht dreihundert Seelen“, rechnete der andere aus, „kann angehn! Zwölf Uhr nächste Nacht am Siel. Und das Geld jetzt gleich!“) Damit zahlte der Fremde im Voraus mit kleinen Silbermünzen.

In der Nacht wartete Minssen mit seiner Schaluppe am Deich. Es war sehr dunkel, er hörte und sah nichts. Aber sein Fahrzeug sank tiefer und tiefer, als würde es befrachtet. Endlich vernahm er, dass er mit Gottes Segen losfahren solle. Der Fischer dachte an andere Schiffe aus der Nachbarschaft, die alle gut zurückgekehrt waren, und hisste das Segel. Im letzten Augenblick kam noch jemand, aber er sah niemanden; die ganze Fracht war wie ein Hauf Federn oder Nebelflocken.

Durch die Finsternis ging es nach drüben. Als Minssen unter einem trüben Licht landete, hörte er wieder die Stimme des Fremden, der eine Liste von Namen ablas, bis die Schaluppe – der Fischer wusste nicht recht, in welchem Hafen er lag – leer zu sein schien.

Auf einmal fragte der Unsichtbare auf hochdeutsch: „Wo ist Pieter Jansen, der ist nicht dabei?“

Eıne Frauenstimme antwortete: „Ich bin Pieter Jansens Weib, ich hab’ mich für ihn einschreiben lassen!“

Der Schiffer konnte später nicht berichten, was daraus geworden war. Er segelte nämlich gleich wieder heim, glücklich über den guten Verdienst. Es war ihm dabei unheimlich und dennoch fröhlich zumute, dass er jenen Mann, der die Seelen sammelte, nun kannte.

Minssen fürchtete sich nicht mehr vor dem Tod.

Quelle & © [Hans Friedrich Blunck, Nordseesagen, Loewes Verlag, Bayreuth 1982]